Bernard Lonergan, "Die Einsicht", Vorwort 3a-4b

Quelle: Bernard Lonergan, "Die Einsicht: eine Untersuchung über den menschlichen Verstand"

Jedes Reden über Kunst ist nur sinnvoll, wenn die geistigen Grundlagen freigelegt werden, auf denen sich die Reflexion über Kunst vollzieht. Mir ist kein Denker bekannt, dessen methodologische Klarheit und Einsichten einem in ähnlicher Weise wie jene Bernard Lonergans dazu verhelfen können, sich der geistigen Grundlagen seiner selbst und Geschichte klar zu werden. Die deutsche Übersetzung von "Insight: A Study of Human Understanding" ist selbst antiquarisch kaum mehr erhältlich. Ich möchte in einer Reihe Passagen aus der deutschen Übersetzung zitieren.

"Die Einsicht in die Einsicht ist die Quelle der klaren und deutlichen Idee von klaren und deutlichen Ideen."

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VORWORT

3a Im idealen Kriminalroman werden dem Leser alle Anhaltspunkte gegeben, und doch vermag er den Täter nicht auszumachen. Er kann jede Spur nach und nach bemerken, so daß er keinen weiteren Anhaltspunkt mehr braucht, um das Rätsel zu lösen. Nichtsdestoweniger kann er immer noch im Dunkel bleiben aus dem einfachen Grund, daß die Lösung zu finden, nicht dasselbe ist wie das Erfassen jeder einzelnen Spur oder die bloße Erinnerung an sie alle, sondern eine spezifische Tätigkeit der organisierenden Intelligenz, welche die ganze Reihe der Anhaltspunkte in eine einzige erklärende Perspektive bringt. (Fs)

3b Unter Einsicht verstehen wir also nicht einen Akt der Aufmerksamkeit oder der Beachtung oder der Erinnerung, sondern den zu diesen hinzukommenden Akt des Verstehens. Die Einsicht ist nicht eine tiefgründige Intuition, sondern jenes bekannte Ereignis, das mühelos und oft bei den durchschnittlich Intelligenten vorkommt und selten und mit Mühe nur bei den sehr Dummen. Sie ist an sich so einfach und selbstverständlich, daß sie jene minimale Aufmerksamkeit zu verdienen scheint, die ihr normalerweise zuteil wird. Zugleich ist ihre Funktion für die Erkenntnisaktivität von so zentraler Bedeutung, daß ein Erfassen ihrer Bedingungen, ihrer Wirkweise und ihrer Resultate dem ganzen Bereich menschlichen Forschens und Denkens eine fundamentale und doch überraschende Einheit verleiht. Dieser Reichtum von Implikationen ist in der Tat verwirrend und deshalb fällt es mir schwer, kurz und bündig auszusagen, worum es in diesem Buch geht, wie ein einzelner Autor erwarten kann, die im Inhaltsverzeichnis aufgelistete Vielfalt von Themen zu behandeln, warum er dies in einem einzigen Buch zu tun versuchen sollte und welchen Nutzen er zu erreichen hoffen könnte, selbst wenn er in seinem ungewöhnlichen Unternehmen erfolgreich sein sollte. (Fs)

3c Ein Vorwort sollte allerdings eine nüchterne und einfache Antwort auf derartige Fragen geben. Vielleicht kann ich mit der Aussage beginnen, daß es mir in diesem Buch darum geht, eine Einsicht in die Einsicht zu vermitteln. Die Mathematiker suchen nach Einsicht in Mengen von Elementen. Die Naturwissenschaftler suchen nach Einsicht in Reihen von Phänomenen. Common-Sense-Menschen suchen nach Einsicht in konkrete Situationen und lebensweltlich-praktische Angelegenheiten. Uns aber geht es darum, jenen Akt der organisierenden Intelligenz zu erreichen, der die Einsichten der Mathematiker, Naturwissenschaftler und Common-Sense-Menschen in eine einzige Perspektive bringt. (Fs)

3d Es folgt, daß die Themen im Inhaltsverzeichnis nicht so disparat sind, wie es beim ersten Blick erscheinen mag. Will jemand ein Mathematiker oder ein Naturwissenschaftler oder ein Mensch mit gesundem Menschenverstand werden, dann wird ihm das vorliegende Buch wenig nützen. So wie die Physiker die Formen von x Wellen untersuchen und die Analyse von Luft und Wasser den Chemikern überlassen, so gilt unser Interesse hier nicht den Gegenständen, die in der Mathematik verstanden werden, sondern den Verstehensakten der Mathematiker; nicht den Gegenständen, die in den verschiedenen Wissenschaften verstanden werden, sondern den Verstehensakten der Wissenschaftler; nicht den konkreten Situationen, die der Common Sense in den Griff bekommt, sondern den Verstehensakten der Menschen von Common Sense. (Fs)

4a Sämtliche Verstehensakte besitzen eine Familienähnlichkeit. Eine vollständige und ausgewogene Sicht kann aber nur gewonnen werden, wenn das Material, das von den verschiedenen Gebieten gewonnen wurde, in denen unsere Intelligenz am Werk ist, in einer einheitlichen Darstellung zusammengefaßt wird. Was ein Verstehensakt ist, kann am deutlichsten an mathematischen Beispielen erkannt werden. Die Dynamik des Kontextes, in dem das Verstehen stattfindet, kann am besten in einer Untersuchung der wissenschaftlichen Methoden erforscht werden. Wie dieser dynamische Kontext von fremden Interessen gestört wird, fällt uns auf durch die Art und Weise, in der der Common Nonsense sich in verschiedenem Maße mit dem Common Sense vermischt. (Fs) (notabene)

Allerdings ist die Einsicht nicht nur eine mentale Tätigkeit, sondern auch ein konstitutiver Faktor der menschlichen Erkenntnis. Es folgt, daß die Einsicht in die Einsicht in einem gewissen Sinne eine Erkenntnis der Erkenntnis ist. In der Tat ist es eine Erkenntnis der Erkenntnis, die für eine ganze Reihe philosophischer Grundprobleme sehr relevant ist. Ich muß hier nun versuchen, dies darzulegen, auch wenn ich das nur in einer abrupten und summarischen Weise tun kann, die die Termini Undefiniert läßt und Argumente anbietet, für die der Beweis noch aussteht. (Fs)

4b Erstens, es ist die Einsicht, die den Unterschied zwischen dem quälenden Problem und der evidenten Lösung ausmacht. Demnach scheinen die Einsichten die Quelle zu sein für das, was Descartes klare und deutliche Ideen nannte, so daß man sagen kann: Die Einsicht in die Einsicht ist die Quelle der klaren und deutlichen Idee von klaren und deutlichen Ideen. (Fs) (notabene)

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